Institut für Führungslernen

Postfaktische Arbeit

Post-truth ist vom Oxford English Dictionary zum „Wort des Jahres“ gewählt worden. Seine deutsche Entsprechung hat Kanzlerin Angela Merkel populär gemacht: «postfaktisch». So wird der gesellschaftliche Zustand genannt, in dem die Fakten keine Rolle mehr in politischen Auseinandersetzungen spielen. Weil immer grössere Bevölkerungsgruppen darauf beharren, ihre gefühlte Wahrheit stimme nun mal nicht mit den Fakten überein. Und überhaupt seien die Fakten gar keine Fakten. Sondern Produkte einer Lügenpresse. Der zukünftige Präsident der USA hat nicht trotz, sondern wegen seiner Lügen gewonnen. O tempora.

Ich persönlich gehe immer noch davon aus, dass die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge Sinn macht. Wie  zum Beispiel auch Pünktlichkeit. Oder dass dreissig Minuten im Rahmen einer Übung in einem meiner Workshops dreissig Minuten sind. Oder dass auf ernsthafte Fragen Antworten mindestens versucht werden. Und dass diese günstigenfalls nahe dem sind, was die Leute wirklich denken und fühlen. Ich gehe davon aus, dass freiwillige Anwesenheit in einem Workshop ein Mindestmass an Interesse und Selbstverantwortung begründet. Oder Engagement ein Minimum an Wertschätzung und Respekt. Dass Fragen nach den Bedingungen guter Zusammenarbeit nicht nutzlos sind, weil sie eine Form guten Zusammenlebens zwischen Menschen ist.

So gesehen arbeite ich postfaktisch: Ich ignoriere die Wahrheiten der Zeit.

Die Wahrheiten der Zeit orientieren sich ganz offenbar mehr und mehr an dem, was gerade passt. Das Teil passt nicht gleich zum Puzzle? Dann kann man es ja zurecht schnipseln. Oder gleich ganz wegschmeissen. Vielleicht passt das nächste. Die Wahrheiten der Zeit fokussieren auf den eigenen Plan, auf die eigene Vorstellung, auf den nächsten erfolgreichen Schritt der Selbstoptimierung.

Die ehemalige «faktischen» Welt da draussen spielt zunehmend eine Nebenrolle. Darum muss auch weniger miteinander geredet oder gehandelt werden. Jeder darf glücklich in seiner Fasson werden in seiner eigenen kleinen selbst gebastelten Welt. Wo das Ich Platz hat und jene, die nicht stören. Alle andern mögen sich bitte vertschüssen. Zurück nach irgendwo. Oder noch lieber noch weiter weg.

Genug gegrübelt. Jetzt ein Witz.

Neulich sagte ein Bekannter über einen Freund «X kleidet sich postfaktisch – er ignoriert die Wahrheiten seines Körpers».

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